Wie ich meinen Weg nach oben fand
Sportkletterer wissen: Klettern heißt Bewegungsprobleme knacken, die einem die Wand stellt. Diesem fesselnden, Geist und Körper gleichermaßen fordernden Spiel in der Vertikalen ist „Angy“ seit ihrer Kindheit verfallen. Schon als kleines Mädchen war sie ein Naturtalent, extrem motiviert, gab immer ihr Bestes. Bald war ein gefeierter „Rockstar“ geboren, der angesagte Klettersport hatte ein frisches, junges Gesicht.
Sehr persönlich und ehrlich erzählt Angela Eiter von dem, was sie am Klettersport so unbändig fasziniert, von ihrer Entdeckung als Naturtalent, der Entwicklung zum perfekt funktionierenden Profi, ihren glänzendsten Wettkampf-Erfolgen und schlussendlich der Hinwendung zum Felsklettern, wo sie ebenso Meilensteine setzen kann. Sie gibt aber auch Einblick in einen unerbittlich harten Leistungsapparat, in dem sie Erschöpfung und Magersucht, Misserfolg, Mobbing und Schmerz am eigenen Leib kennengelernt hat ... Die berührende Geschichte einer Ausnahmesportlerin, deren Karriere auch den speziellen Weg des Klettersports in Österreich seit seinen Anfängen begleitete!
Wie alles begann
Meine ersten Schritte in die Vertikale
Kletterhunger
Wie läuft ein Wettkampf ab?
Meine erste Tiroler Schüler-Meisterschaft
Die Spirale beginnt sich zu drehen
Ein starkes Band
Die erste Kletterreise
Wer ist stärker: die Magersucht oder ich?
Auszeit und Rückkehr
Inspirierende Begegnungen
Mit Kopf durch die Wand
Wenn der Vater mit der Tochter …
Angy, die Trainingsweltmeisterin?
Ganz oben
Rock Master : der Beginn einer wunderbaren Karriere
Den Kinderschuhen entwachsen
Aller Anfang ist schwer
Von wegen Eintagsfliege
Ein Sport auf dem Weg nach Olympia
Frühling der Entscheidungen
Siege im Abonnement?
Die Kehrseiten der Medaillen
Das Blatt wendet sich
Ausgebrannt
Der Nagel bricht
Zurück auf Los
Eine Art Wiedergeburt
Weltmeisterlich klettern
Ausflug mit Folgen
Vollgas in die letzte Saison
Abschied und Neubeginn
Draußen klettern ist anders
Nifada oder neue Wege am Fels
Der Drang nach mehr
Das Projekt meines Lebens
Der Körper fordert sein Recht
La Planta de Shiva
Nachbemerkung
Was bringt die Zukunft?
Zeittafel
Die wichtigsten Wettkämpfe, Sportkletterrouten und Auszeichnungen
Kletterhunger
Im Herbst desselben Jahres wechselte ich in die neue Schule, wo im Zuge des Unterrichts zweimal die Woche ein Klettertraining mit Sportlehrer Michael „Mike“ Gabl auf dem Stundenplan stand. Von Beginn an kletterte ich mit tiefer Leidenschaft und meine Begeisterung machte mich stark. Schon als Kind liebte ich Denksportaufgaben, an denen ich mich regelrecht festbeißen konnte, sowie das kreative Basteln mit allem möglichen Plunder, der mir zwischen die Finger kam. Beim Klettern entdeckte ich in gewissem Maß Parallelen zu diesen Vorlieben. Denn neben den konditionellen Fähigkeiten sind es vor allem mentale Aspekte, die über das Gelingen von Bewegungsabläufen beim Klettern entscheiden.
Dieses Knacken von Bewegungsrätseln taugte mir so sehr, dass ich selbst nach dem Training in der Schule oft noch am Stockbett in meinem Zimmer weiterkletterte. Ich nummerierte mir an den Sprossen und Bettkanten einzelne Züge und boulderte daran herum, bis ich müde wurde. Anschließend machte ich zum Auspowern noch ein paar Klimmzüge und Liegestützen.
Das umfangreiche Training zeigte Früchte, denn bei meinem ersten Wettkampf, der „Westtiroler Meisterschaft“, die es damals noch gab, erreichte ich den erstaunlichen fünften Platz. Mike war hellauf begeistert von meiner Vorstellung und überreichte mir eine symbolische Mitgliedskarte zur Aufnahme in sein spezielles Wettkampf-Kletterteam, in dem er den Stärksten unter uns als „Nachspeise“ zum allgemeinen Training eine weitere Trainingseinheit servierte. Das war Futter für meine Motivation! Ich brachte meinen Papa dazu, mir eine eigene Kletterwand zu bauen, damit ich auch in den Sommerferien trainieren konnte, wenn die Kletterhalle der Schule geschlossen hatte. Allzu viel Überredungskunst brauchte es nicht, denn ihm taugte es, wie ich durch das Klettern immer mehr aufblühte. Ein guter Freund meines Vaters besaß einen Heustadel, den er ihm gern
für den Bau einer Kletterwand zur Verfügung stellte. Gemeinsam werkelten sie mehrere Tage eifrig an der Konstruktion, bis sie mir dann stolz den fertigen Kletterhimmel demonstrierten. Die Wand reichte hinauf bis auf eine Höhe von fünf Metern und erstreckte sich vier Meter in die Breite. Im rechten Teil konstruierte mein Vater sogar ein kleines Dach, damit ich ordentlich zu beißen hatte. An dieser Wand konnte ich im Toprope oder sogar im Vorstieg klettern. Papa sicherte mich, wann immer er Zeit hatte. Manchmal stapelten wir am Boden des Heustadels auch alte Matratzen aufeinander, sodass ich im unteren Teil der Wand frei herumbouldern konnte. Spätestens nach dem ersten Sommer entpuppte sich die Wand allerdings als zu einfach für meine gesteigerte Fitness. Ich kannte die Züge in- und auswendig und das immer gleiche Auf- und Abklettern wirkte narkotisierend auf meinen Körper und Geist. Ich fühlte mich wie ein Tiger im Käfig. Was für ein Glück, dass zu dieser Zeit gerade die neu errichtete Kletterhalle in Imst ihre Tore für uns öffnete. Mit ihren 17 Meter hohen, teils stark überhängenden Wänden war sie damals die größte Halle in Österreich – ein krasser Gegensatz zu meiner kleinen Heustadel-Welt und gerade recht für meinen Tatenhunger.
Mike verköstigte uns inzwischen dreimal die Woche mit seinem Trainingsmenü. Es war ein irres Gefühl, seinem Team anzugehören. Die Älteren von uns waren so um die 14 oder 15 Jahre alt und bestritten schon eifrig Wettkämpfe in der Jugendklasse. Dabei gingen sie selten leer aus, denn das Kletterteam Imst gehörte zu den erfolgreichsten in Österreich.
Für die Wettkämpfe überreichte uns Mike spezielle, mit den Labels der Sponsoren bedruckte Klamotten, die wir gern auch bei den Trainingseinheiten trugen. Wenn ich heute zurückblicke, find ich es sehr amüsant, mit welcher Begeisterung ich damals dieses Werbe-Outfit trug.
Neben dem Training an den Wänden der Kletterhalle Imst sowie im schuleigenen Boulderraum ging Mike mit uns gelegentlich zum Klettern an die Felsen in der Umgebung. Als Bergführer war es ihm wichtig, uns einen verantwortungsvollen Umgang mit uns selbst und der Natur zu vermitteln. Beim Thema Sicherheit kannte er kein Pardon. Am Fels wies er uns auf die Gefahren hin, die in einer Halle nicht vorkommen. Das Klettern bereitete mir auch draußen in der Natur großen Spaß, zumal ich schon immer gern mit meinem Papa in die Berge ging. Durch den Wechsel von Halle und Fels konnte ich schon früh aus dem Vollen schöpfen.
Weniger begeisterten mich die gelegentlichen Gewichtsmessungen im Wettkampfteam. Durch die Kletterszene wurde unterschwellig vermittelt, dass leichte Kletterer bessere Karten im Wettkampf hätten. Man orientierte sich an bekannten Gesichtern, die im internationalen Ranking bei Kletterwettkämpfen ganz oben standen, wie zum Beispiel Katie Brown aus den USA oder die französischen Sportkletterpioniere François Legrand und Liv Sansoz. Das Thema „Leicht-sein“ war jedenfalls in meinem Trainingsumfeld ein gern diskutiertes Thema, ein geringes Körpergewicht galt als eine der erfolgversprechenden Variablen beim Klettern.
Auch österreichische Topathleten wie Stefan Fürst oder Reinhold Scherer lebten scheinbar das „Schmalsein“ vor. Beide Pioniere sorgten im nationalen wie internationalen Ranking für Aufsehen. Stefan galt zu seiner Zeit als unangefochtene Nummer 1 in den Österreichischen Meisterschaften und heimste zudem große Erfolge bei internationalen Bewerben ein. Auch am Fels bewies er sein Können, insbesondere mit der Erstbegehung von „X-Large“ in Arco im Schwierigkeitsgrad 8c. Reinhold Scherer stand ihm um nichts nach. Er erlangte spätestens 1992 mit der Erstbegehung von „Dschungelfieber“ an der Martinswand bei Innsbruck im Grad 8c+ ebenfalls große internationale Bekanntheit. Über diese legendären Leistungen wurde oft gesprochen, auch Mike erzählte davon. Die Bilder dieser superschlanken Helden brannten sich auf der Netzhaut unseres inneren Auges ein.
Hinzu kommt, dass ich zumindest für mich den Eindruck hatte, Mike würde für unseren Sport sehr schlanke Kletterinnen besonders schätzen. All das motivierte mich, weniger zu essen, um erfolgreicher zu werden. Als Kind hatte ich eigentlich immer Appetit, da ich stets Auslauf suchte und mich oft stundenlang in der freien Natur bewegte. Ob Radfahren, Schwimmen, Ballspiele oder einfach irgendwo Herumturnen – ich erfreute mich an allem, was Bewegung und körperliche Ertüchtigung versprach. Wählerisch war ich beim Essen eigentlich nicht, aber bestimmte Lebensmittel lösten sehr starke Bauchkrämpfe bei mir aus. Vor allem nach dem Genuss von Brot oder Nudelgerichten hatte ich mit derart üblen Koliken zu kämpfen, dass ich oft zusammengekrümmt liegen musste. Auch bei Milchprodukten und Süßigkeiten hielt ich mich aus freiem Ermessen zurück, vermutlich zeigte mir mein kindlicher Instinkt, dass ich bestimmte Nahrungsmittel nicht vertrug. Als ich acht Jahre alt war, suchte meine Mama mit mir einen Arzt auf, der bei mir eine Weizensowie eine leichte Laktose- und Fruktose-Unverträglichkeit diagnostizierte. Heute weiß ich, dass ich an chronischen Magen-Darm-Beschwerden litt und noch immer leide, die allerdings erst recht spät richtig erkannt wurden. Vermutlich spürte ich bereits als Kind die Symptome. Nichtsdestotrotz aß ich das, was ich vertrug, gern. Gleichzeitig aber machte es mir nichts aus, meine Mahlzeiten um des Klettererfolgs willen immer mehr zu reduzieren, denn wenn der Magen leer war, blieben auch die Bauchkrämpfe aus.
Also aß ich nur noch die Hälfte als sonst. Manchmal startete ich ohne Frühstück in den Tag. Ein anderes Mal ließ ich das Mittagessen ausfallen oder es gab am Abend nichts. Ich las in Büchern und Zeitschriften alles über Ernährung, was ich nur finden konnte. So lernte ich nicht nur die Grundsätze gesunder Essgewohnheiten kennen, sondern auch wie Abnehmen am besten gelingt. An manchen Tagen fiel mir meine selbstauferlegte Diät leicht, gelegentlich kämpfte ich mit dem Hunger. Aber mein Wille war stark. An den Trainingssonntagen dieses ersten Winters in Mikes Wettkampfteam legte ich besondere Beharrlichkeit an den Tag, denn ich wollte ihn beeindrucken und im Klettern besser werden. Ich startete mit einem reichhaltigen Frühstück, denn frühstücken war schließlich erlaubt. Das hatte ich gelesen. Auf 10:00 Uhr brachten mich meine Eltern in die Kletterhalle. Meine Teamkollegen und -kolleginnen waren auch schon vor Ort, und wir pushten uns gegenseitig im Training. Wir spulten eine Route nach der anderen, zogen dann noch ein paar Boulder oder machten ein Krafttraining am Board. Manche meiner Teamkollegen beendeten das Training bereits mittags, wieder andere gesellten sich später dazu. Ich aber blieb bis in den Nachmittag in der Kletterhalle. Zu essen gab es den ganzen Tag über sehr wenig, ich belohnte mich erst mit dem Abendessen für diese lange Trainingseinheit.
Im Nachhinein wundere ich mich, wie ich das ohne umzukippen durchstehen konnte, aber es funktionierte prächtig. Ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, an dem ich erschöpft war. Heute wäre dies undenkbar, aber der Körper eines zwölfjährigen Kindes konnte diese Belastungen anscheinend gut kompensieren. Zumindest vorübergehend. Jedenfalls stieg meine Leistungskurve nach oben wie eine Parabel. Diesen konditionellen Schub setzte ich brauchbar bei den nächsten wichtigen Wettkampfereignissen ein. Die Tiroler Meisterschaft der Schülerklasse rückte heran. Noch dazu in meinem „Wohnzimmer“, in der Imster Kletterhalle.
Die Autorin Angela „Angy“ Eiter 1986 in Zams geboren, in Arzl im Pitztal aufgewachsen und in der Region Imst beheimatet, zählt zu den besten Sportkletterinnen der Welt. Die Bilanz ihrer Wettkampfkarriere sucht ihresgleichen: Die Tirolerin wurde 2005, 2007, 2011 und 2012 Weltmeisterin im Lead, 2010 Europameisterin und sicherte sich 2004, 2005 und 2006 drei Mal hintereinander den Weltcup-Gesamtsieg. Den legendären Rockmaster in Arco entschied sie sechs Mal für sich – eine außergewöhnliche Leistung, die bis heute keiner anderen Frau gelang. 2013 zog sich die heute 33-Jährige aus dem Wettkampfgeschehen zurück und widmete sich fortan dem Freiklettern im Fels. Ihren bisher größten Triumph errang sie 2017 in Spanien: Als erste Frau weltweit kletterte sie eine Route im Schwierigkeitsgrad 9b (XI+/XII–)